Straßenverkehr in Thailand – das tägliche Blutbad

Blutige Verkehrsunfälle und fehlender Versicherungsschutz von Ausländern –

Praxisbericht eines langjährigen Krankenhausmitarbeiters in mehreren Folgen.

Gastbeitrag von Manfred Kluge. Bei unserem letzten Gespräch, mit dem jetzt in Ruhestand gegangenen deutschen Honorarkonsul Hagen Dirksen sagte dieser uns, die Situation der Opfer von Verkehrsunfällen und deren Angehörigen sei dasjenige Thema, was ihn in seiner Zeit als Konsul am meisten bedrückt habe. Jemanden in Deutschland zu nachtschlafender Zeit anzurufen und den Eltern mitzuteilen, dass ihr 18-jähriger Sohn soeben bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen sei, habe mit zu seinen schwersten Aufgaben gehört. Wer sich allerdings über die Problematik der astronomisch hohen Zahl von Verkehrsunfällen zu deutlich äussert, macht sich schnell unbeliebt, denn Knochenbrüche und Todesfälle stören das harmonische Bild vom Urlaubs- und Rentnerparadies Thailand. Gerade deshalb ist es jedoch wichtig – manchmal geradezu überlebenswichtig – , dieses Blut- und Tränenthema anzusprechen und auch den häufig fehlenden Versicherungsschutz zu erwähnen, denn einen Unfall zu erleiden oder eine schwere Krankheit und dann möglicherweise noch ohne Versicherungsschutz dazustehen, ist sozusagen ein doppeltes Unglück für die Betroffenen.

Die meisten von uns wissen, dass Thailand zu den Ländern mit den meisten Verkehrsunfällen und auch den häufigsten Todesfällen gehört, wobei 85% davon auf Motorradunfälle zurückzuführen sind. Die hier ansässigen Ausländer und am allerwenigsten die Touristen machen sich allerdings klar, dass sie zu einer besonderen Risikogruppe gehören, bei denen die Gefahr eines Verkehrsunfalls nochmals weit über dem von Thailändern liegt. Kaum sind sie aus dem Flieger ausgestiegen und im Hotel angekommen, führt ihr Weg zum nächsten Motorradverleih, man unterschreibt schnell einen Vertrag über 14 Tage, hinterlegt eine Sicherheitsleistung, und kann dann z.B. mit einer Honda Click, dem häufigsten 125cc Scooter-Modell, losbrausen. Fragen des Verleihers nach dem internationalen Führerschein, der in Thailand vorgeschrieben ist? Meist Fehlanzeige. Die meisten Verleiher wollen sich ihr Geschäft nicht verderben lassen, überflüssige Fragen werden nicht gestellt, auch nicht nach einer evtl. vorhandenen Fahrpraxis auf einem Zweirad.

Thailand – das ist jedoch nicht Europa, der Zustand der Strassen ist nicht derselbe, vor allem, wenn es geregnet hat, die Fahrgewohnheiten der Thais sind, milde gesagt, höchst gewöhnungsbedürftig, und so kommt es denn, dass die unvorsichtige 22-jährige deutsche oder französische Touristin (kein Schreibfehler, denn viele Verkehrsopfer sind junge Frauen) sich ein Motorrad ausleihen, dann am zweiten Tag ihres Urlaubs auf der Nase liegen, von umstehenden Thais umsorgt solange, bis die Ambulanz kommt. Der Krankenwagen kommt dann meist auch sehr schnell und bringt die Opfer in eines der besseren, privaten Krankenhäuser, wo man zumindest Englisch spricht. Nach der medizinischen Erstversorgung kommt dann meist die Frage nach der Krankenversicherung, die bei dieser Klientel auch in der Regel vorhanden ist, denn mit dem Flugticket wird meist auch eine Versicherungspolice mit abgeschlossen, in Zeiten von COVID ohnehin.

Der absolute Rekord war ein 19-jähriger Deutscher, der gerade über Bangkok nach Chiang Mai geflogen war, sich sofort ein Motorrad lieh und bereits an seinem zweiten Urlaubstag einen Unfall baute. Dumm gelaufen, könnte man sagen: Beinoperation, 8 Tage Krankenhausaufenthalt, Urlaub zu Ende, Flugticket umbuchen, Heimflug antreten mit einem bandagierten Unterschenkel und Knie, einem Arm in der Schlinge oder auch mit einem Stützkorsett für die angeknackste Wirbelsäule. ‘Dumm gelaufen’ im wahrsten Sinne des Wortes, denn als leiderfahrener Krankenhausmitarbeiter fragt man sich ja jedes Mal: Wie ist es eigentlich möglich, dass relativ gebildete junge Europäer, mit allen Informationsmöglichkeiten über das Internet und die sozialen Netzwerke, dennoch das Risiko eingehen und das gefährlichste aller vorhandenen Transportmittel auswählen, wo es doch ein reiches Angebot von Tuktuks, roten Sammeltaxis oder auch Grab-Taxis gibt, die einen für wenig Geld an fast jeden Ort bringen? Ein psychologisches Rätsel, das dringend einer Aufklärung bedürfte. Wenn man die Leute dann befragt, hört man meistens Äusserungen wie “Wir wollten zum Wat Doi Suthep hochfahren, aber dann war da bei der Rückfahrt eine Kurve mit einem Schlagloch”, oder “die Strasse war nach dem Regen etwas rutschig” (Pardon, aber das gehört zu den physikalischen Wetterumständen), “der Thai-Autofahrer hat uns einfach nicht gesehen” (was durchaus sein kann, denn viele ältere thailändische Fahrer, vor allem von halbverrotteten Pick-ups, sind leider halbblind, haben keinen Führerschein und eine stark verminderte Reaktionsfähigkeit). Und dann natürlich die absolute Unfall- und Todesstrecke von Chiang Mai nach Pai, die man mit einem Zweirad eigentlich überhaupt nicht befahren sollte, denn die Fahrt dauert mehr als drei Stunden, ist sehr kurvenreich und auch geübte Autofahrer müssen dort höllisch aufpassen. Jede halbe Stunde fährt ein Bus nach Pai vom Chang-Phueak Busterminal aus, für ein paar Baht, also warum sich diesem Risiko aussetzen?

Warum also? Ein grosses Thema für ein Seminar in Psychologie. Eine mögliche Antwort kann darin liegen, dass vor allem junge Leute ohne grosse Lebenserfahrung ein sehr vermindertes Risiko- und Gefahrenbewusstsein haben. Die Generation der Smartphone- und Tablet-Abhängigen –man kann dies sehr wohl als pathologisches Phänomen ansehen, also als potentiell krankhaft – weiss einfach nicht, wie es ist, wenn ein 60-90 kg schwerer Körper mit seiner vollen kinetischen Energie auf eine harte Asphaltoberfläche knallt. Man ist halt daran gewohnt, dass man schlechte Fotos nachbearbeiten oder wegklicken kann und virtuelle Touren unternehmen, aber jeder, der jemals breite Schürfwunden am Arm oder am Unterschenkel hatte oder auch eine Knieverletzung, der weiss erst, was wirkliche Schmerzen sind. Man muss eben erst einmal wirklich “vom Pferd geworfen” werden oder von einem Elefantenfuss mit einer Wucht von einer Tonne am Brustkorb getroffen worden sein (in den Elefantenparks z.B. in der Provinz Chiang Mai ist dies Alltag, wird aber gerne verschwiegen), um zu verstehen, dass die reale Welt einen manchmal sehr radikal in die Wirklichkeit zurückversetzt, abseits aller veganer Gutmenschenentwürfe, die gerade in den Köpfen der jüngeren Generation herumspuken. In diesen paradoxen Zusammenhang gehört aber auch die nonchalante Missachtung von Gesetzen und Regeln des Landes, in welchem man sich gerade als Gast aufhält. Egal ob nun auf Phuket, in Pattaya oder Chiang Mai, überall sind es vielfach westliche Ausländer, die penetrant keine Masken tragen auf der Strasse oder in Einkaufszentren. Die sehr oft keinen Schutzhelm tragen beim Motorradfahren oder die mit einem schmutzigen, viel zu kleinen T-Shirt meinen, in ein hiesiges Krankenhaus oder Einkaufszentrum gehen und dies offenbar als besonderes Zeichen ihrer Individualität sehen.
Diese Missachtung elementarer ästhetischer und moralischer Verhaltensregeln ist offenbar das neue ‘New normal’: man möchte alle Rechte haben, aber keine Pflichten, und wertet diesen Widerspruch als besonderen Ausdruck individueller Freiheit nach dem Motto “I don’t care”.
Aber genug davon, im zweiten Teil wenden wir uns dann dem Thema “Residenten in Thailand” zu.

 

 

5 Gedanken zu „Straßenverkehr in Thailand – das tägliche Blutbad“

  1. „Die Generation der Smartphone- und Tablet-Abhängigen – man kann dies sehr wohl als pathologisches Phänomen ansehen, also als potentiell krankhaft….“ Richtig!!!

    Solche Sätze sind wichtig und wahr. Sie kennzeichnen eine epidemische Haltung in einer Gesellschaft und sind sowohl Zeichen als auch Ursache für die Zustände in dieser Gesellschaft. Wie oberflächlich und dumm wir mit einem hervorragenden technischen Werkzeug wie einem Handy umgehen, wie oberflächlich und dumm wir mit einem Kommunikationsmittel wie einem digitalen Netzwerk umgehen, lässt erschrecken. Karl Kraus stellte vor über 100 Jahren fest: „Mit zunehmender Zivilisation verblödet die Gesellschaft.“

    Schade, dass man hier die Kommentare nicht mit Bildern verifizieren kann. Ich habe jede Menge Aufnahmen von halbnackten Touristinnen auf Bikes in den Bergen und in Shops. Und auch halbnackte, fette Männer bevölkern in Thailand Fußgängerzonen, wofür sie in der Heimat wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses polizeilich behandelt würden. Das alles als „besonderen Ausdruck individueller Freiheit“ zu betrachten, wie der Autor schreibt, ist ebenfalls pathologisch.

    1. super kommentiert. Ich lebe hier und bin auch oft geschockt, was viele hier als „Freiheit“ bezeichnen: Gesetze missachten, alle moralischen Bedenken beiseite schieben, die hiesige Kultur mit Füßen treten – dies oft im wahrsten Sinne des Wortes.

  2. „Die Generation der Smartphone- und Tablet-Abhängigen –man kann dies sehr wohl als pathologisches Phänomen ansehen, also als potentiell krankhaft…“ ist sicher ein wichtiger und wahrer Satz, den ich so noch nie gelesen habe. Wenn meine Frau(Thai) und ich (Deutscher) so etwas in Thai-Gruppen schreiben, erhalten wir entweder einen Shitstorm oder totales Ignorieren. Es gibt nur eine einzige FB-Gruppe, die in ihrem Titel Thailand ohne Brille sieht. Sie hat nur eine handvoll Mitglieder. Wir werden so etwas mal dankbar teilen.

    1. Hallo Manfred,
      könntest Du mal bitte sagen, wo man die Facebookseite „Thailand ohne Brille“ findet????
      Danke schon mal im voraus

  3. Gut dass es Menschen gibt wie Herr Hearthe, welche sich über die schrecklichen „Massaker“ und deren Folgen im thailändischen Strassenverkehr äussern. Ich kann diesem Bericht vollumfänglich zustimmen. Schuld an der ganzen Situation sind beide Seiten, die Polizei und die Verkehrsteilnehmer. Gesetze sind bekanntlich da, um geordnete Verhältnisse zu schaffen. Aber gerade hier versagt die Regierung. Es gibt zwar Gesetze für alles, es gibt auch ein ausführlicher Bussen Katalog bei Nichtbeachtung deren, aber was nützen denn Gesetze wenn sie nur auf dem Papier bestehen? Warum entzieht man Motorrad Verleihern bei Missachtung der Vorschriften zur Motorradverleihung nicht sofort die Bewilligung? Warum lässt man, vorallem junge Menschen auf grossen Motorrädern herzufahren? Warum lässt man klein-Motorräder „frisiert auf Lärm und Geschwindigkeit“ im ohnehin verrückten Strassenverkehr zu? Hier gäbe es nur eine einzige Möglichkeit um die Situation endlich in vernünftige Bahnen zu leiten. Rigorose Bussen, Verschrottung der Motorräder vor den Augen der Verkehrssünder und bei erneuten Verstössen, leider auch einmal Arrest! Dass die Verkehrsunfälle und Totesopfer zum grossen Teil auf Motorräder zurückzuführen sind, spricht doch eine eigene Sprache. Motorräder fahren vielfach absolut unverständlich und lebensgefährlich auf Thailands Strassen. Auch Rotlichter an Ampeln, Gehwege, Einbahnstrassen, Sicherheitslinien und Geschwindigkeits Beschränkungen scheinen Fremdwörter zu sein. Solange die Polizei nicht wirklich rigoros und mit scharfen Konsequenzen bei Verstössen einschreitet, wird der tägliche Wahnsinn auf Thailands Strassen nie enden!

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